Beate Slansky
Das Auge blickt in die Stille, das Ohr horcht in die Weite
über die Inversion von Sehen und Hören und die Suche nach dem ethischen Moment in der Malerei

Wie wird Zeitlichkeit in einem Bild präsent? Was passiert, wenn ein Bild das Vergehen von Zeit zu erkennen gibt? Kann es auch Zeit festhalten oder Zeit geben? Und was bedeutet das für die Beziehung zwischen Bild und Betrachter?

Um diese Fragen zu beantworten, wende ich mich zunächst der Musik zu und versuche auf einer reflexiven Ebene zu erfassen, wo die Überschneidungspunkte von Malerei und Musik liegen. Denn die Musik wird als die ideale Zeitkunst verstanden. Das Hören läuft auf der Achse der Zeit hin und her, die musikalische Form wird nur von ihrem Ende her verstanden. Hören heisst, sich der Zeit auszuliefern – jeder Augenblick kann eine Überraschung, einen Wandel bedeuten. Oder die Fortsetzung des Kontinuums. Doch es gibt in der Musik auch Momente, in der die lineare Zeitwahrnehmung aufgehoben wird. Das passiert, wenn der Klang verstummt: in den Pausen, in den Stillen. Pausen durchbrechen das Klangkontinuum, aber man könnte auch sagen, der Klang kann nur vor dem Hintergrund der Stille zum Ausdruck kommen, „gehört“ werden. Könnte die Stille als ein konstituierendes Element der Musik der Moment sein, in dem der Raum zu Gehör kommt?
In der Stille gibt es keine »Form« mehr, denn musikalische Bewegung kann nicht mehr wahrgenommen werden. Das heisst aber nicht, dass es diese Bewegung nicht gibt, sie entrinnt nur der Perzeption und auf der Suche nach ihr - im Lauschen auf das langsame Verklingen der Töne - öffnet sich dem Hörer ein imaginärer Raum. „Es ist das Unhörbare oder Unerhörte, das […] den Raum nicht erfüllt, sondern ihn entdeckt, ihn offenbart. Es erzeugt ein plötzliches unmerkliches Im-Klang-Sein, nicht ein Anfangen es wahrzunehmen, es erzeugt ein: sich Teil des Raumes Fühlen […].“, beschreibt es der italienische Komponist Luigi Nono.1 In der Stille wird die Zeitlichkeit der Musik demnach erfahrbar als räumliche Ausdehnung. Das zeitliche Nacheinander klappt um in die Wahrnehmung eines Raumes, den man zu hören meint. „Das ‚auge im ohr’ wird wach: Das Auge blickt in die Stille, das Ohr horcht in die Weit.“ Diese Ausdehnung erstreckt sich in scheinbar unendliche Weiten und Tiefen, Fernen und Nähen und findet seine Begrenzung allein durch Ereignisse des Klangs.

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